Vor einiger Zeit kam eine junge Frau zu mir in die Praxis. Sie war von fürchterlichen Schuldgefühlen geplagt und erzählte mir, dass sie eine Ausbildung in einer abgelegenen Gegend absolviert hatte. Die Ausbildung gefiel ihr gut, auch die Kommilitonen waren freundlich, aber es gab nur wenig Abwechslung und Freizeitaktivitäten in der kleinen Stadt.
An einem Freitagnachmittag schlug sie ihrer Freundin und deren Partner vor, einen Ausflug nach Tschechien zu machen. Die beiden hatten keine Lust und lehnten vorerst ab. Sie wollte aber nicht allein losziehen, redete lange auf ihre Freunde ein, ja sie machte einen regelrechten Aufstand, bis die beiden schließlich nachgaben. So fuhren sie zu dritt mit dem Auto ihrer Freundin in Richtung Grenze, nahmen eine kurvenreiche, schmale Straße als Abkürzung und wurden vom Gegenverkehr so weit abgedrängt, dass ihr Auto von der Straße abkam, sich überschlug und gegen einen Baum prallte.
Die Freundin verstarb noch an der Unfallstelle, ihr Partner überlebte schwer verletzt und danach querschnittsgelähmt. Aber die junge Frau, die die beiden zu diesem Ausflug überredet hatte, blieb fast unverletzt.
Tieftraurig und selbst wie gelähmt erzählte sie mir diese Geschichte. >>Hätte ich die beiden doch bloß nicht zu diesem Ausflug gedrängt! Dann würde meine Freundin noch leben und ihr Mann säße nicht im Rollstuhl. Wie furchtbar, dass ich die beiden zum Mitkommen überredet habe! Ich fühle mich entsetzlich und einfach nur schuldig.<<
Zuerst kam mir natürlich in den Sinn, ihr zu versichern, dass es nicht ihre Schuld sei. Sie hatte den Unfall nicht geplant, auch nicht verursacht oder beabsichtigt. Und ohne Vorsatz oder Absicht gibt es nun mal keine Schuld sondern nur Verantwortung. Sie wollte niemandem Schaden zufügen und ihre Freunde hatten sich selbstverantwortlich überreden lassen und den Ausflug begonnen. So etwas passiert leider! Da sollte man loslassen und sich schnell von seinen Schuldgefühlen befreien.
Doch bevor ich etwas sagte, überlegte ich, wie oft diese junge Frau solche Art Beteuerungen wohl schon gehört haben musste, vielleicht schon Hunderte Male. Das hatte aber offensichtlich nichts bewirkt. Also hielt ich eine Weile inne, überdachte die Situation und erklärte dann, es sei völlig in Ordnung, wenn sie sich jetzt schuldig fühle.
Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich. Die Trauer machte der Überraschung Platz und langsam zeichnete sich Erleichterung ab. Es schien ihr neu, dass sie sich tatsächlich schuldig fühlen durfte. Da hatte ich also ganz richtig geraten.
Darüberhinaus fühlte sie sich auch noch wegen ihrer Schuldgefühle schuldig, weil die Anderen versuchten, sie ihr auszureden. So plagte sie ein mehrfaches Schuldgefühl, wegen des Unfalls selbst und der Tatsache, dass sie sich die Schuld an dieser Katastrophe gab. So etwas bedeutet einen extremen Angriff gegen die eigene Person, verbraucht enorm viel an Lebensenergie und kann auf Dauer nicht ohne gesundheitliche Folgen bleiben.
Nachdem wir uns mit der ersten Phase ihres Schuldgefühls beschäftigt und festgestellt hatten, dass es in Ordnung war, sich so zu fühlen, konnten wir den nächsten Schritt gehen und uns der Frage zuwenden:
Was kann man gegen solche Schuldgefühle unternehmen? Wie funktioniert dieses Loslassen?
Da kam mir eine alte buddhistische Weisheit sehr gelegen: Entzünde lieber eine Kerze, als dich über die Dunkelheit zu beklagen! Klagen helfen uns nicht weiter, wenn wir aus der Fassung geraten. Wir können immer etwas unternehmen und sei es nur, uns eine Zeit lang einfach ruhig hinzusetzen.
Schuld ist etwas ganz anderes als Reue. In unserer Gesellschaft verhängt der Richter ein Urteil über den „Schuldigen“ und wenn uns aber keiner bestraft, dann übernehmen wir das eben selbst. Tief in unserer Seele scheint eine Überzeugung verankert zu sein, dass wir Strafe verdienen.
Die junge Frau brauchte also entsprechend ihrer Erziehung eine Buße, um sich von ihrer Schuld zu reinigen. Es wäre sinnlos gewesen, ihr zu empfehlen, alles zu vergessen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ich schlug ihr also vor, ehrenamtlich in einer Reha-Klinik zu arbeiten und sich dort besonders um die Unfallopfer zu kümmern. Diese anspruchsvolle Arbeit würde dazu beitragen, dass sich ihr Schuldgefühl auflösen kann. Und so halfen ihr jene Menschen, denen sie helfen wollte …
( frei nach Ajahn Brahm )